Freitod - Weblog zum Selbstmord
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Werfel, blaßblaue Frauenschrift

Dieser Frack ist nämlich ein Erbstück. Ein Studienkollege und Budennachbar hat ihn Leonidas testamentarisch hinterlassen, nachdem er sich eines Abends im Nebenzimmer eine Kugel unangekündigt durch den Kopf gejagt hatte. Es geht fast wie im Märchen zu, denn dieses Staatsgewand wird entscheidend für den Lebensweg des Studenten. Der Eigentümer des Fracks war ein "intelligenter Israelit". (So vorsichtig bezeichnet ihn auch in seinen Gedanken der feinbesaitete Leonidas, der den allzu offenen Ausdruck peinlicher Gegebenheiten verabscheut.) Diesen Leuten ging es übrigens in damaliger Zeit so erstaunlich gut, daß sie sich dergleichen luxuriöse Selbstmordmotive wie philosophischen Weltschmerz ohne weiteres leisten konnten. (Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift, S. 12)


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Krausser: Schmerznovelle

Im Internet gab es eine Website, auf der Selbstmordaspiranten und solche, die an dem Versuch bereits gescheitert waren, ihre Erfahrungen austauschen konnten. Da wurden saubere und schmerzlose Wege besprochen, ebenso Nachlaß- und Versicherungsfragen, Aspekte der Leichenentdeckung durch Angehörige und vieles mehr. Manche der Chatter beschlossen, sich zu treffen und gemeinsam aus der Welt zu gehen, andere benötigten Hilfe und boten Geld dafür, wieder andere begannen hemmungslos miteinander zu flirten. In einer Rubrik konnte man seine Vorstellung vom Jenseits per Bild präsentieren oder ausformulieren. Das war interessant. Es gab neben dem mehrheitlichen Schwarz in Schwarz auch ganz prächtig ausgemalte, arkadische Idyllen, so daß man sich fragen mußte, was jene Träumer denn noch länger von ihrem Freitod abhielt. Offentsichtlich waren die Urheber jener Schilderungen höchst vernünftige Leute, die ihre Freizeit opferten, um die überbevölkerte Erde durch schwelgerische Visionen ein wenig zu entlasten. Denen gegenüber standen in den Chatrooms verständnisvoll-besorgte Missionare, die Spaß daraus bezogen, Wackelkandidaten weichzureden und zurück ans Ufer des Lebens zu binden. Redeschlachten kamen in Gang, verbissen wurde gekämpft um jede Seele, die sich als gefährdet offenbarte. (Helmut Krausser: Schmerznovelle, S. 100)


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Thelen, Insel (2)

Ich mißbillige den Selbstmord, den uns die Schöpfung schließlich in einprägsamen Beispielen vorgelebt hat, nicht. Seine Vorstellung ist mir sogar erhabener als der Tod, der einen Menschen fertigmacht durch einen Blumentopf, der aus der fünften Etage auf seinen Schädel fällt mit demselben Vorwissen Gottes, der auch den fallenden Spatz in den Allplan einbezieht. Jeder Mensch hat das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was ihm beliebt; macht er Schluß damit, so ist das seine Sache. Eine andere ist es indessen, ob das seinen Mitmenschen behagt. Die meisten erblicken darin einen Eingriff in die Natur, und wenn das jeder täte - da liegt der Haken. Aus Egoismus will der Mensch, daß auch der andere am Leben bleibe, oder von des Nächsten Hand falle, wenn er zuviel wird. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts, S. 200)


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Thelen, Insel (1)

Wir waren verschämte Arme. Vielleicht würden wir uns aufhängen, sofern ein letztes, dringendes Telegramm an die Filmleute ohne Erfolg bliebe. Vielleicht? Schnell bei der Hand mit kurzen Prozessen, hatte ich diese Lösung vorgeschlagen. Beatrice fand Selbstmord aber lächerlich und feige, und Aufhängen zudem noch unästhetisch, das überlasse sie gern dem Fuhrmann Henschel aus Hauptmanns Drama und ähnlichen Proletariern der Literatur. Wenn sie je Hand an sich legen würde, dann nur im Stile der Sappho, die sich, die Leier schlagend, vom Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts, S. 161)


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Vergleich

"Es ist wirklich merkwürdig", sagte Marja Nikolajewna auf einmal. "Da erzählt einem jemand, und das ganz seelenruhig: Ich beabsichtige zu heiraten. Aber niemand erklärt einem seelenruhig: Ich beabsichtige, mich ins Wasser zu stürzen. Doch wo liegt da der Unterschied? Merkwürdig. Wirklich." (Iwan Turgenjew: Frühlingsfluten. Erzählungen, S. 137)


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Keyserling: Dumala

"Die Galgenbrücke hat Rast einreißen lassen", sagte Werland. "Ja, es war Zeit", erwiderte Werner zerstreut. "Eine Gelegenheit weniger, sich aus der Welt zu befördern", meinte Werland, "aber Sie haben wohl keine Selbstmörder unter Ihren Gemeindekindern, was?" "Nein, Gott sei Dank." "Die Leute hier", fuhr Werland fort, "sind wie die kleinen Leute, die selten ins Theater kommen. Wenn sie mal ihren Platz bezahlt haben, dann bleiben sie bis zu Ende, wenn auch ein Stümper das Stück geschrieben hat und sie nur gähnen und sich ärgern müssen. Wir alle machen es wohl so." (Eduard Graf von Keyserling: Dumala, S. 102)



Hoeg: Fräulein Smillas...

Die Messer, die ich in der Wohnung habe, sind gerade noch so gefährlich, dass man damit Briefe öffnen kann. Eine Scheibe grobes Brot zu schneiden, geht bereits über ihre Leistungsfähigkeit. Für mich brauchen sie auch nicht schlimmer zu sein. An schlechten Tagen verfalle ich sonst nämlch leicht auf den Gedanken, daß man sich ja jederzeit im Bad vor den Spiegel stellen und sich die Kehle durchschneiden kann. Bei solchen Gelegenheiten ist es ganz angenehm, wenn man die zusätzliche Sicherheit hat, daß man sich beim Nachbarn erst ein ordentliches Messer ausleihen muß. (Peter Hoeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee)


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Collins: Unschöne Leiche

Leute, die sich so elend fühlen wie ich, werden leicht verrückt. Ich muß ans Fenster, ich bekomme keine Luft mehr. Ob ich gleich hinausspringe? Besser nicht - man kommt so entstellt unten an, und so viele Leute sehen die unschöne Leiche... (Wilkie Collins: Der rote Schal, S. 357)


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Bilanz

"Bilanz" heißt eine skurrile Erzählung Herbert Rosendorfers (enthalten in dem Band Ball bei Thod), in der ein Buchhalter den Entschluß faßt, sich auf dem Dachboden aufzuhängen, aber, gewissenhaft, wie er ist, und bestrebt, seine Angelegenheiten vorher in Ordnung gebracht zu haben, ständig von der Realisierung abgehalten wird. Zu guter Letzt stellt sich noch beruflicher Erfolg ein und seine lästige Frau stirbt an Krebs.


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Im Zeichen des Löwen

"Selbstmord ist ein sehr interessantes Thema", fuhr der Polizeipräsident fort und ließ sich in den Sessel zurücksinken, denn er wußte, daß alle jetzt ganz genau zuhörten. "Düster und sehr interessant. Der Unterschied zwischen uns allen, die wir ab und zu in schweren Stunden mit dem Gedanken spielen, uns das Leben zu nehmen... Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß wir uns darüber Gedanken machen, wie ein solcher Todesfall die Menschen treffen würde, die uns nahestehen", sagte er leise. "Wir sehen, welch entsetzliche Tragödie er für sie wäre. Also beißen wir die Zähne zusammen, und einige Monate später sieht das Leben schon etwas besser und heller aus. ... Aber der echte Selbstmordkandidat denkt anders. Er glaubt, daß das Leben für diejenigen, die ihn lieben, besser wird, wenn er sich für den Tod entscheidet. Er empfindet sich als Belastung. Nicht unbedingt, weil er etwas falsch gemacht hat, sondern weil sein Schmerz so ... so unerträglich wird, daß er auf die anderen übergreift und auch ihnen das Leben unerträglich macht. Das glaubt er zumindest. Und nimmt sich das Leben." (Anne Holt: Im Zeichen des Löwen) [via Liisa]



Kundera: Abschiedswalzer

Der Mensch sollte am Tag seiner Volljährigkeit Gift bekommen. Es sollte ihm im Rahmen einer feierlichen Zermeonie übwerreicht werden. Nicht, um ihn zum Selbstmord zu verleiten. Im Gegenteil, damit er in größerer Ruhe und größerer Sicherheit leben kann. In dem Bewußtsein, Herr über sein Leben und seinen Tod zu sein. (Milan Kundera: Abschiedswalzer, S. 89)


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Klabund: Berliner Ballade

Sie hing wie eine Latte Vom Schranke steif und stumm. Am Morgen sah's ihr Gatte, Lief nach dem Polizeipräsidium.

"Meine Frau", so schrie er, "ist verschieden..." Doch der Polizeiwachtmeister Schmidt Rollte blutig seine Augen: "Wie denn, ha'm Sie den Jeburtsschein mit?"

Dieses hatte er mitnichten, Und er setzte sich in Trab, Spät entsann er sich der ehelichen Pflichten, – schnitt sie ab.

Und er legt den Strick an seine Kehle, Vor dem Spiegel, peinlich und honett. Nimmt noch einen Schluck, befiehlt Gott seine Seele – schwapp, schon baumelt er am Ehebett.

(Klabund)


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Brentano: Geschichte vom braven Kasperl

Ich konnte diese letzten Worte eines gewiß edeln unglücklichen Menschen nicht ohne bittere Tränen lesen. - "Der Kasper muß ein gar guter Mensch gewesen sein, liebe Mutter", sagte ich zu der Alten, welche nach diesen Worten stehen blieb und meine Hand drückte und mit tiefbewegter Stimme sagte: "Ja, es war der beste Mensch auf der Welt. Aber die letzten Worte von der Verzweiflung hätte er nicht schreiben sollen, die bringen ihn um sein ehrliches Grab, die bringen ihn auf die Anatomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur helfen könnte!" "Wieso, liebe Mutter?" fragte ich, "was können diese letzten Worte dazu beitragen?" - "Ja, gewiß", erwiderte sie, "der Gerichtshalter hat es mir selbst gesagt. Es ist ein Befehl an alle Gerichte ergangen, daß nur die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begraben werden, alle aber, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, sollen auf die Anatomie; und der Gerichtshalter hat mir gesagt, daß er den Kasper, weil er selbst seine Verzweiflung eingestanden, auf die Anatomie schicken müsse." "Das ist ein wunderlich Gesetz", sagte ich, "denn man könnte wohl bei jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oder Verzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richter und die Advokaten drüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und auf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unser Herzog ist ein so guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird er dem armen Kasper gewiß ein Plätzchen neben der Mutter vergönnen." (Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl)


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Geklaut beim Salbader
Geklaut beim Salbader

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Das Weblog Freitod definiert schon mit seinem Namen das Thema, das es enthält: Aspekte des Suizids sollen in gesellschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht erörtert werden. Freitod ist ein kollaboratives Weblog, das allen registrierten Antville-Usern ermöglicht, sich zu beteiligen, indem sie entweder Einträge verfassen oder Kommentare zu den Einträgen schreiben können. Abgrenzend sei gesagt, dass nicht um Sinn und Daseinsberechtigung des Freitodes diskutiert werden soll und dass es sich auch nicht um ein Selbshilfeforum für Gefährdete oder betroffene Angehörigen handelt.

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