Freitod - Weblog zum Selbstmord
[mit unsäglich origineller GIF-Animation]
 


Künstler in Coronazeiten

Das letzte Mal, als ich Marion (Name geändert) sah, hatte sie ihre sonst blonden Haare rabenschwarz gefärbt. Sie kam mit einer Gruppe Musiker in einem Restaurant vorbei, in dem wir gerade eine Teambesprechung für unser nächstes Filmfestival abhielten.

Marion ist Sängerin, Schauspielerin und Entertainerin. Sie hat eine wirklich gute Stimme, kommt aber trotz ihrer hoher Professionalität nicht auf ein ausreichendes Einkommen. Wie so viele ihrer Kollegen, die noch nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren.

Ich habe mich gefreut, sie wiederzutreffen. Obwohl sie seltsam aussah mit ihren schwarzen Haaren, und seltsame Sachen von sich gab: „Ich gehe jetzt in die Politik, Leute. Diese Scheiße hier erträgt doch niemand mehr!“ Sie meinte den aufziehenden, zweiten Lockdown, dessen erste Vorzeichen wir noch am selben Abend spürten, denn der Wirt warf uns um Punkt 22.00 Uhr aus dem Lokal.

Draußen auf der Straße ein letztes Winken. „Ich kriege langsam keine Luft mehr, Tom!“ rief sie mir noch hinterher. „Wenn du mal ’ne kleine Rolle beim Tatort hast, melde dich.“ Da ich solche Nachfragen in den letzten Monaten sehr oft bekomme, machte ich nur eine vage Handbewegung. Ich kann nicht alle Kollegen zur Besetzung vorschlagen, die gerade wegen der Corona-Maßnahmen auf der Straße stehen.

Marion verstand mein Zeichen. Sie rollte spielerisch mit den Augen und winkte resigniert ab. Dann ging sie nach Hause.

Marion gehört zu den vielen zehntausend Menschen in Deutschland, die es schwer haben, von ihrer Arbeit zu leben.

Etwa 15.000 unserer MitbürgerInnen nennen sich SchauspielerInnen, haben zumeist eine langjährige Ausbildung absolviert und jobben zusätzlich in der Gastro. Weil sie nicht zu den fünf Prozent der regelmäßig Beschäftigten gehören.

[...]

Ein mir persönlich bekannter Schauspieler sitzt seit zwei Monaten in seiner Berliner Wohnung, geht nicht mehr auf die Straße und auch nicht mehr ans Telefon. In seinem Wohnzimmer stapeln sich die leeren Pizza-Schachteln. Seine Agentur hat sich zunächst um ihn gekümmert. Jetzt tut es nur noch seine Tochter.

Er redet nicht mehr, seitdem er erfahren hat, dass er aus einer TV-Serie rausgeschrieben wurde, weil er mit 64 Jahren zu der Corona-Risikogruppe gehört. Und die Risikogruppen gefährden nun mal einen geregelten Drehablauf.

Rausgeschrieben.

Was für ein widerliches, Endgültigkeit vermittelndes Wort.

[...]

Letzte Woche wurde ich darüber informiert, dass sich Marion umgebracht hat. „Ich kriege langsam keine Luft mehr, Tom!“ Das leise Sterben – es hat längst begonnen."

[...]

Thomas Bohn, "Das leise Sterben", veröffentlicht in Welt-Online am 13.01.2021 (Bezahlschranke)


 

Geklaut beim Salbader
Geklaut beim Salbader

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