Freitod - Weblog zum Selbstmord
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Radetzkymarsch II

"Im Laufe der Jahre hatte der Hauptmann einen schwer übersichtlichen, äußerst verworrenen Kriegsplan ersonnen, in dem keine Methode, das Glück zu zwingen, außer acht gelassen war: weder die Mittel der Beschwörung noch die der Gewalt, noch die der Überrumpelung, noch die des flehentlichen Gebets und der liebestollen Lockung. Einmal mußte sich der arme Hauptmann, sobald er ein Cœur erwünschte, verzweifelt stellen und der Unsichtbaren im geheimen versichern, daß er, käme sie nicht bald, heute noch Selbstmord begehen würde; ein anderes Mal hielt er es für aussichtsreicher, stolz zu bleiben und so zu tun, als sei ihm die Heißersehnte vollkommen gleichgültig. Ein drittes Mal mußte er, um zu gewinnen, mit eigener Hand die Karten mischen, und zwar mit der Linken, eine Geschicklichkeit, die er mit eisernem Willen nach langen Übungen endlich erworben hatte; und ein viertes Mal war es nützlicher, an der rechten Seite des Bankhalters Platz zu nehmen. In den meisten Fällen allerdings galt es, alle Methoden miteinander zu verbinden oder sie sehr schnell zu wechseln, und zwar so, daß die Mitspieler es nicht erkannten. … Doch! Er kommt! Die Tür geht auf, und Wagners Augen leuchten! Er gibt Trotta gar nicht die Hand! Seine Finger zittern. Alle Finger gleichen ungeduldigen Räubern. Im nächsten Augenblick pressen sie schon einen herrlichen, knisternden Umschlag. »Setz dich hin!« befahl der Hauptmann. »In einer halben Stunde spätestens siehst du mich wieder!« Und er verschwand hinter dem grünen Vorhang. Die halbe Stunde verging, noch eine Stunde und noch eine. Es war schon Abend, die Lichter brannten. Der Hauptmann Wagner kam langsam näher. Er war höchstens noch an seiner Uniform zu erkennen, und auch diese hatte sich verändert. Ihre Knöpfe standen offen, aus dem Kragen ragte das schwarze Halsband aus Kautschuk, der Säbelgriff steckte unter dem Rock, die Taschen blähten sich, und Zigarrenasche lag verstreut auf der Bluse. Auf dem Kopf des Hauptmanns ringelten sich die Haare des braunen, zerstörten Scheitels, und unter dem zerzausten Schnurrbart standen die Lippen offen. Der Hauptmann röchelte: »Alles!« und setzte sich. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen. Ein paarmal machte Trotta den Versuch, eine Frage zu tun. Wagner bat mit ausgestreckter Hand und gleichsam ausgestreckten Augen um Stille. Dann erhob er sich. Er ordnete seine Uniform. Er sah ein, daß sein Leben keinen Zweck mehr hatte. Er ging jetzt hin, um endlich Schluß zu machen. »Leb wohl!« sagte er feierlich – und ging. Draußen aber umfächelte ihn ein gütiger, schon sommerlicher Abend mit hunderttausend Sternen und hundert Wohlgerüchen. Es war schließlich leichter, nie mehr zu spielen, als nie mehr zu leben. Und er gab sich sein Ehrenwort, daß er nie mehr spielen würde. Lieber verrecken als eine Karte anrühren. Nie mehr! Nie mehr war eine lange Zeit, man kürzte sie ab. Man sagte sich: bis zum 31. August kein Spiel! Dann wird man ja sehen! Also, Ehrenwort, Hauptmann Wagner! Und mit frisch gesäubertem Gewissen, stolz auf seine Festigkeit und froh über das Leben, das er sich soeben selbst gerettet hat, geht der Hauptmann Wagner zu Chojnicki. Chojnicki steht an der Tür. Er kennt den Hauptmann lange genug, um auf den ersten Blick zu sehen, daß Wagner viel verloren und wieder einmal den Entschluß gefaßt hat, kein Spiel mehr anzurühren. … Eines Tages besuchte ihn der Hauptmann Wagner, saß lange am Bett, ließ hier und da ein Wort fallen, stand auf und setzte sich wieder. Schließlich zog er seufzend einen Wechsel aus dem Rock und bat Trotta zu unterschreiben. Trotta unterschrieb. Es waren fünfzehnhundert Kronen. Kapturak hatte ausdrücklich Trottas Garantie gefordert. Hauptmann Wagner wurde sehr lebhaft, erzählte eine ausführliche Geschichte von einem Rennpferd, das er preiswert zu kaufen gedachte und das er in Baden laufen lassen wollte, fügte noch ein paar Anekdoten hinzu und ging sehr plötzlich weg. Zwei Tage später erschien der Oberarzt bleich und bekümmert an Trottas Bett und erzählte, daß Hauptmann Wagner tot sei. Er hatte sich im Grenzwald erschossen. Er hinterließ einen Abschiedsbrief an alle Kameraden und einen herzlichen Gruß für Leutnant Trotta. … Sie hoben die Köpfe und sahen sich an und ließen die Köpfe wieder sinken. So waren sie schon einmal zusammengesessen, nach dem Selbstmord Hauptmann Wagners. Jeder von ihnen dachte an den Vorgänger Hauptmann Jedliceks, den Hauptmann Wagner, jeder von ihnen wünschte heute, auch Jedlicek hätte sich erschossen. Und jedem kam plötzlich der Verdacht, daß sich auch ihr toter Kamerad Wagner vielleicht nur erschossen hatte, weil er sonst verhaftet worden wäre..."

Josph Roth, Radetzkymarsch, diverse Kapitel.


 

Geklaut beim Salbader
Geklaut beim Salbader

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