Freitod - Weblog zum Selbstmord
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Samstag, 6. Juli 2002


Hannelore Kohl

Vor einem Jahr hat sich Hannelore Kohl das Leben genommen. Peter Praschl hat damals im Sofa was dazu geschrieben. Ich hoffe, er ist nicht böse, wenn ich den Text hier nicht nur verlinke, sondern der Einfachheit und ggf. besseren Diskutierbarkeit halber gleich kopiere.

----- Folgt: Praschl -----

Frauen, Schatten, Licht. Wenn Männer gestorben sind, handeln die Nachrufe von ihren Siegen im öffentlichen Leben, auf den Schlachtfeldern von Politik, Ökonomie und Geist. Wenn Frauen gestorben sind, berichten die Nachrufe von den Niederlagen im Geschlechterkampf. Je vernichtender sie erscheinen, desto ausführlicher wird die Todesprosa. Lady Diana, die Königin der Herzen, Opfer des Prinzgemahls, Gefangene des Palasts - so erfahren die Überlebenden, dass sie leiden müssen, um im Gedächtnis zu bleiben. Nun ist Hannelore Kohl dran. Kaum ist sie tot, werden die Druckzylinder mit dem Feminismus des Bedauerns und des Mitleids geätzt, der den Frauen doch immer nur ganz antifeministisch klarmacht, dass sie eine interessante Biografie nur als Opfer haben.

"Ich verbrenne von innen", heißt die Titelgeschichte des "Spiegel" zum Tod Hannelore Kohls, und er läßt keinen Zweifel daran, dass er nicht gedenkt, der unerträglichen Schmerzen zu gedenken, die Frau Kohl gefoltert haben müssen. Ein weibliches "Innen" ist schon immer die Seele gewesen, und die Lebensgeschichte Hannelore Kohls ist die einer guten Seele, der vom Mann Schmerzen zugefügt werden, in denen sie verglüht wie ein Komet.

Dankbarer ist eine scheußliche Krankheit nie metaphorisiert worden:

Ihr Selbstmord aus Verzweiflung über eine unerträgliche Lichtallergie beendet ein Leben mit den Schattenseiten der Macht
heißt es im Untertitel, mit dem uns das Sturmgeschütz der Demokratie darauf einstimmt, um welche Kanonade es hier geht. Geschossen wird für die Tote, getroffen werden soll der Überlebende. Keine Schonfrist, das ist man sich schuldig, sich und der ehemaligen First Frau, die im Schatten verbrannte, den die Macht auf sie warf.

Das Haus der Kohls, ein "Bunker", darin die Frau, krank, verzweifelt. Der Mann sitzt im fernen Berlin beim Essen mit seinen Rechtsanwälten, während die Frau Abschiedsbriefe schreibt, der "Spiegel" weiß, dass es um 22 Uhr gewesen ist, nicht etwa schon Tage vorher, er weiß es eben, so wie er immer alles weiß. Es ist 22 Uhr, die Frau schreibt acht Abschiedsbriefe, sie hat sich bis ganz zuletzt damit Zeit gelassen, und der Mann sitzt währenddessen im Restaurant und feiert seinen Triumph im Prozess gegen die Gauck-Behörde.

Am nächsten Tag wird die Leiche entdeckt, der "Spiegel" zitiert die Verlautbarung, Hannelore Kohl habe sich umgebracht, weil sie ihre Krankheit nicht mehr ertragen habe, und dann tritt er zu:

"Nichts daran ist falsch. Doch bei den wenigsten Suiziden gibt es ja den einen, den ausschließlichen Grund."
Der "Spiegel" weiß es, so wie wir alle es wissen. Keiner bringt sich einfach so um, auch nicht, wenn er unerträglichen Schmerzen entgehen will. Es gibt andere Gründe dafür, und im Fall einer Politikergattin liegen die Gründe nahe: das Leben eben, an der Seite von so einem. Sie müssen nahe liegen, die Gründe, warum eine wie Hannelore Kohl sich umbringt, ansonsten ist es keine Titelgeschichte, kein "Spiegel"-Titel jedenfalls. Also redet der "Spiegel" über die Gründe, er läßt sich nicht abhalten davon, obwohl er es selbst besser weiß:
Natürlich ist es im Nachhinein immer müßig zu spekulieren, was zuerst kommt: die physische Erkrankung oder die psychische, was also Ursache und was Resultat ist. Doch dass im traurigen Fall der Hannelore Kohl beides eine Rolle spielte, scheint für alle, die sie kannten, keine Frage zu sein.
Es ist, sagt der "Spiegel, müßig, darüber zu spekulieren. Aber er lässt es nicht, wider besseres Wissen. Der den Nachruf begleitende Informations-Kasten über die Krankheit Hannelore Kohls sagt:
Bei einigen Patienten spielen auch seelische Gründe als Ursache eine Rolle - bei einer schweren Lichtallergie, wie Hannelore Kohl sie hatte, kommt dieser Mechanismus jedoch nicht in Betracht. Die quälenden, sich jeder Therapie widersetzenden Hautsymptome ziehen die Seele in Mitleidenschaft, nicht umgekehrt,

aber der "Spiegel" lässt es nicht bleiben. Er besteht darauf, dass die Seele die Haut krank gemacht hat, nicht etwa umgekehrt, und von der Seele zu Helmut Kohl ist es nur ein Absatz:
In 41 Jahren mit dem rüden Machtmenschen Kohl wurde aus Hannelore Kohl, der Frau an seiner Seite, die Frau in seinem Schatten. Hannelore Kohl starb als Einsame.
Dass Frau Kohl sich nicht in aller Öffentlichkeit umgebracht hat, nicht im Licht, sondern alleine, diskret, besorgt sogar um die Gefühle des Menschen, der ihre Leiche finden würde, dass sie gestorben ist wie eine Stoikerin, autonom, selbstbestimmt, geordnet, dass sie also gestorben ist wie ein zivilisierter Mensch, das gilt dem "Spiegel" nichts: Ihr Mann hat sie auf dem Gewissen, 41 Jahre lang hat er sie in den Schatten gedrängt statt ans Licht gehoben, und immer einsamer ist sie dabei geworden.

So hat er, der Mann im Licht, keinen Trost verdient, keine Diskretion. Nicht vom "Spiegel", der nun einmal die Aufgabe hat, alles ins Licht zu ziehen:

Der Schock, glaubt der getreue Ede Ackermann, der die Ehe seines Chefs seit Jahrzehnten mit aufmerksamer Besorgnis verfolgte, werde Kohl zu schaffen machen: "Ich glaube, das geht ihm schwer aufs Gemüt. Wenn sie an einer normalen Krankheit gestorben wäre, das wäre auch schlimm. Aber leichter für ihn zu ertragen. Ich weiß nicht, wie der Alte das verkraftet."
Unfreiwillig drückte Eduard Ackermann, ein einfühlsamer und nachdenklicher Mann, mit seinen Worten das innere Drama dieser und anderer traditioneller Politikerehen aus - selbst noch nach dem Tod der Partnerin geht es vor allem um den Politiker.
Es ist ein Drama. Ein Freund des Witwers wird gefragt, wie es dem Witwer geht. Der Freund begeht den Fehler, Antwort zu geben, das übliche: ein Schock, kaum zu verkraften, wenn sie denn anders gestorben wäre und nicht so verzweifelt gewesen wäre, nur noch im Selbstmord einen Ausweg zu sehen - was man eben so sagt, was wir alle sagen würden in einer ähnlichen Lage. Doch der "Spiegel", der sich vorgenommen hat, Licht in den Schatten zu bringen, weiß, was davon zu halten ist: Es geht wieder einmal nur um ihn, Helmut Kohl, den Mann im Licht, nicht um sie, Hannelore, die Frau im Schatten. So wird alles, auch die Sorge eines Freundes des Hinterbliebenen für dessen Gemüt, zum Indiz.

Der Fall, dessen Indizien der "Spiegel" sammelt, ist der ewig alte: Machtmann gegen Seelenfrau. Die Tote kann sich nicht mehr wehren gegen das, was ihr nachgesagt wird, ein Nichts gewesen zu sein, ein Opfer bloß, ein trauriger Frauenfall eben. Sie hat keinen Beruf gehabt, erzählt der "Spiegel", sie hat sich im Hintergrund aufgehalten, sie hat sich um die Kindererziehung gekümmert. Das ist, weiß der Feminismus des Bedauerns, nichts, wozu sich Frauen freiwillig entschließen, mögen sie selbst es noch so häufig in Interviews betonen. Hausfrau, Mutter, Hintergrund: Das ist für die Leute vom "Spiegel" so sehr nichts, dass sie sich einfach nicht vorstellen können, Hannelore Kohl wäre freiwillig so gewesen. Sie hätte sich doch auch ein Kindermädchen nehmen können.

Als die Kinder älter sind, beginnt sie sich für soziale Belange zu verwenden:

Als sie in Washington mit dem "International Service Award" ausgezeichnet wurde, dem "Oscar der Hilfbereitschaft" für ihren Einsatz für die amerikanischen Soldaten und deren Familien in Deutschland, bedankte sich Hannelore Kohl in bestem Englisch,
erzählt der "Spiegel" und läßt sich dazu folgenden Satz einfallen:
Jetzt zeigte sie, was in ihr steckte an Intelligenz und Sprachgewandtheit.
So dementiert sich das psychologische Verständnis selbst: Die eine Hand streichelt posthum die Frau, die andere sticht weiter auf den rüden Machtmenschen ein, der ihre Sprachgewandtheit, ihre Fähigkeit, englische Dankesreden zu halten, so lange in den Schatten gedrängt hatte.
Hannelore Kohl imponierte bald Fachleuten durch die Ernsthaftigkeit und das Geschick, mit dem sie auf diesem Gebiet agierte. Für fast 200 Kliniken sammelte sie bis Ende vergangenen Jahres insgesamt 36,9 Millionen Mark an Spendengeldern.
Es ist also nicht gerade nichts, was da erzählt wird, kein Schattenleben, keine Trauerexistenz. Einem Mann, der dergleichen geschafft hätte, würde man zu Recht Respekt zollen, bei Frau Kohl dagegen ist es ein Emanzipationsversuch, eine Strategie, mit ihrem traurigen einsamen Politikergattinnenlos fertigzuwerden, etwas in der Art. Frauen, man weiß das im "Spiegel", tun Dinge nicht einfach nur so, sie tun sie aus den obskursten Gründen, und meistens handelt es sich um Beschäftigungstherapie für die leidende Seele.

Weiter im Text: 1993 wird sie krank, die Allergie äußert sich durch Hautprobleme, vor allem aber Atemnot, sie bekommt keine Luft mehr, in den letzten zwölf Monaten verschlechtert sich der Zustand dramatisch, sie verträgt keinerlei Strahlen mehr, kann nicht einmal fernsehen. Kohl, der sich anfangs mit dem Gedanken trägt, die Politik aufzugeben, entscheidet sich dann doch für eine erneute Kanzlerkandidatur - und gegen Oggersheim:

Die Vorstellung, in Oggersheim neben seiner kranken Frau zu sitzen, schien ihm im Vergleich zu den öffentlichen Aufgaben, auf die er sich berief, wohl doch zu unattraktiv.
Daheim, das waren für die Kohls seit 30 Jahren die gepflegten Straßenzüge Oggersheims zwischen Schiller- und Marbacher Straße, die die Einheimischen "Goldstaubviertel" nennen.
In der Siedlung, die sich zwischen freiem Feld und Hochspannungsmasten ersteckt, riecht es ein wenig nach verblasstem Wirtschaftswunder.(...) Und am Horizont ragen die Plattenbauten und Chemie-Schornsteine Ludwigshafens in den Himmel - Schauplatz des öffentlichen Endes einer vermeintlich privaten Frau.
Die Oggersheimer glaubten stets mehr zu wissen über das Eheleben der Kohls, als durch die Medien bekannt wurde. Pries der Kanzler auf Parteitagen den hohen Wert der "Familie", schüttelte manch einer vor Ort den Kopf. Die Bäckerei Kudraß, in der Oggersheimer Schillerstraße, drei Gehminuten vom Bungalow der Kohls entfernt, ist eine der heimlichen Informationsbörsen, aus denen sich die Neugierde der 15 000 Einwohner in dem Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim bisweilen nährt.
Hier wird beim Kauf von Brötchen und Kuchen mit allem gehandelt: Affären, die er gehabt habe, Affären, die sie gehabt habe, Schmutz eben, eine Menge Schmutz.
Schmutz eben, eine Menge Schmutz. Schmutzig genug, um erwähnt zu werden, alles muss ans Licht, auch, was die Leute in der Bäckerei Kudraß reden, während sie sich um Brötchen anstellen. Namen? Informantenschutz, presserechtlich garantiert.
(...) Und nur eine Woche später sprachen alle Menschen in Oggersheim über die Rätsel dieses Selbstmordes. Warum habe die 68-jährige Frau ihren Tod gerade so inszeniert, im Schlafzimmer des Familienhauses?
Jede Frage eine Anklage, jede Vermutung ein Indiz. Sie hätte auch, nacht, wenn die Sonne nicht schien, gegen ein Auto laufen, sich einen Stromschlag zufügen können, was auch immer, keine Abschiedsbriefe, einen Unfall simulieren. Aber so? Zuhause, im Schlafzimmer? Eine Inszenierung, und Inszenierungen, man weiß das, sind für Zuschauer gedacht. Wer der Zuschauer ist, wird im folgenden Absatz gesagt:
Jedem Selbstmord geht ein langer Prozess von Frustrationen voraus, die das Opfer nicht mehr in den Griff bekommt. Aggressionen können nicht mehr nach außen abgelassen werden - und dann richtet der oder die Lebensmüde diese Aggressionen schließlich gegen sich selbst.
Ein Suizid innerhalb einer Ehe hat zwei Opfer: Der Überlebende bleibt zurück, gleichsam bestraft - und ohnmächtig mit all seinen Schuldgefühlen und ohne die Möglichkeit, je wieder mit der Verstorbenen sprechen zu können.

Er, der Mann im Licht, wird nie wieder mit seiner Frau sprechen können. Wenn er den "Spiegel" lesen würde - was Helmut Kohl immer bestritten hat, und nie konnte man es besser verstehen als in dieser Woche -, wenn er also den "Spiegel" lesen würde, würde er wissen, dass er sich das selbst eingebrockt hat, irgendwie; stand er nicht am Anfang des langens Prozesses von Frustrationen, war er es nicht, dem die Aggressionen galten?
Rein kriminalistisch blieben keine Fragen offen.
Kein Schatten mehr, nur noch Licht. Keine Barmherzigkeit, nicht den Toten, nicht den Hinterbliebenen. Und Macheath, der hat ein Messer, doch das Messer sieht man nicht.

----- War: Praschl -----


 

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