Freitod - Weblog zum Selbstmord [mit unsäglich origineller GIF-Animation] |
Das Hinterbleiben Vor Jahren hatte ich Anstrengungen unternommen zu ergründen, ob sich eigentlich schon mal jemand ernsthaft mit den Hinterbliebenen eines Selbstmords befaßt hat - welche Spuren die Erfahrung eines Selbstmords von Familienangehörigen, Freunden, Geliebten, Bekannten, so eben hinterläßt. Da ichs eher mit der Wissenschaft habe, habe ich Wissenschaftler kontaktiert, Psychologen vorwiegend. Kam nicht viel raus. Mit einem Wissenschaftsjournalisten telefoniert, kam auch nicht viel raus. Das Thema interessiert mich immer noch. Also hier die Frage: Kennt jemand luzide literarische, künstlerische, wissenschaftliche Befassungen mit dem Hinterbleiben nach Selbstmord? Ich habe ja den Verdacht, dass Selbstmord als Thema dermaßen fasziniert, dass daneben notgedrungen verblassen muß, welche Spuren bei den Hinterbliebenen verbleiben.
katatonik,
02.06.02, 02:17 ,
Hinterbleiben
Dostoevskij,
2. Juni 2002 um 10:19:20 MESZ
das freilich würde mich auch interessieren. Ich beginne mich gerade erst (auf Metaebene) mit dem Thema zu beschäftigen, habe allerdings persönliche Erfahrungen; denn mein bester Freund suchte vor ca. 14 Jahren den Freitod. Bis heute gelang mir kein Kontakt mit den Hinterbliebenen, vielleicht auch, weil mein Zorn auf sie noch nicht verraucht ist. Nun sollte der Depressive, wie ich mir sagen lassen mußte, eigentlich ein Thema suchen, das etwas heiterer ausfällt; aber Interessen erzwingen kann man letztlich auch nicht.
bov,
2. Juni 2002 um 12:44:42 MESZ
Das Thema eignet sich schlecht für eine fundierte monografische Darstellung. Ein Suizid wirkt sich auf den Partner anders aus als auf die Eltern oder auf Freunde; für ein Kleinkind hat der Suizid eines Elternteils andere Folgen als für erwachsene Kinder; der Suizid der Mutter wiegt anders als der des Vaters. Außer der Sache mit den Selbstvorwürfen haben diese Varianten wenig gemein. Die verschiedenen Suizid-Ursachen machen das Thema noch disparater. Es gibt ein paar allgemeine Ratgeber. Neueren Datums ist dieser: Manfred Otzelberger: "Suizid. Das Trauma der Hinterbliebenen. Erfahrungen und Auswege." Ch. Links Verlag, Berlin 1999, 256 S. Ich kenne das Buch nicht - Rezensionen stehen hier: www.luise-berlin.de www.depri.net (Meistens taugen solche Bücher allenfalls als "Erste Hilfe".) Eine Menge Literatur gibt es inzwischen auch über den Suizid Jugendlicher, vor allem Selbsthilfeliteratur hinterbliebener Eltern usw. Das ist fast ein Modethema geworden, und natürlich kaufen solche Bücher auch wohlmeinende Eltern, die sich nur informieren wollen. Einzelaspekte des Themas tauchen in verschiedenen Disziplinen auf. So hat die Ursachenforschung herausgefunden, dass allein der Umstand, einen nahen Angehörigen durch Suizid verloren zu haben, die eigene Suizidgefährdung deutlich erhöht ("Sogwirkung"). Klingt banal, kann einem aber unter Umständen die Augen öffnen. Ebenso taucht das Thema in der Literatur über Alkoholismus und Co-Alkoholismus auf. Alkoholiker nehmen sich vergleichsweise oft das Leben, sodass der Suizid des Alkoholkranken Teil der schwierigen Beziehung zwischen Alkoholiker und Angehörigen ist. Auch in der Literatur über den Tod (ganz allgemein) von Angehörigen taucht das Thema auf: Warum lässt er mich allein? Wohin mit meiner Aggression? (Usw.) Wenig Material gibt es meines Wissens darüber, wie der Suizid eines Elternteils oder beider Eltern sich auf die Kinder auswirkt. Peter Handke beschreibt in "Wunschloses Unglück" Leben und Suizid seiner Mutter. Auch wenn er sich selbst sehr zurücknimmt, handelt das Buch doch indirekt von den Folgen eines Suizids auf einen Hinterbliebenen.
katatonik,
2. Juni 2002 um 18:28:22 MESZ
Danke Die Ratgeberliteratur ist mir teilweise bekannt, interessiert mich aber eigentlich nicht. Das mit der "Sogwirkung" habe ich schon mehrmals gelesen, war mir aber immer zu undifferenziert. Aus dem breiten Spektrum der angesprochenen Suizide interessiert mich übrigens gerade der Elternsuizid. Die mir bekannten Menschen mit Elternsuizid ähneln sich in ihrer Persönlichkeit auf sehr auffällige Weise.
katatonik,
2. Juni 2002 um 18:38:54 MESZ
Profil: Verlassens- und Versagensangst, dadurch bedingt extreme Vorsicht beim Eingehen zwischenmenschlicher Beziehungen, starke Abhängigkeit von Vertrauens- und Zuneigungsbeweisen, Durchleben der vermutlich ultimativen Verlassenserfahrung des Elternsuizids bei jeder auch noch so geringbedeutenden Trennung, gelegentlich sogar auch bei relativ unbedeutenden zwischenmenschlichen Konflikten. Mißtrauen, Mißtrauen, Mißtrauen. Kompensation zwischenmenschlicher Verlassensangst durch berufliche Überleistung. - öh ja, sowas in der Art.
catirita,
29. Mai 2007 um 00:11:10 MESZ
Ich würde mich sehr dafür interessieren, ob du noch mehr darüber in Erfahrung gebrachgt hast oder ob es vernünftige Literatur zu eben jenem Thema gibt - da meine Mutter sich umbrachte, als ich 6 Jahre alt war. Verlassensangst kenne ich selbst auch bestens. Ich wäre euch über Infos sehr dankbar.
bov,
2. Juni 2002 um 18:56:13 MESZ
Schreckstarre auch bei geringfügigen Konflikten; unerfüllbare Erwartung von Anerkennung, damit verbunden ständig wiederkehrende Enttäuschung usw. Das hängt auch sehr vom Alter des Kindes zum Zeitpunkt des Suizids ab und von der Familiengeschichte bis zum Suizid. Naja, Binsenweisheit.
katatonik,
2. Juni 2002 um 19:02:59 MESZ
Der Nagel ist am Kopf. - Man kann das jetzt natürlich eingrenzen auf den Suizid von Eltern, die (a) das Kind aufzogen (tun ja nich alle) und (b) dem Kind nahestehen, obwohl ich mir vorstellen kann, dass für die Enttäuschungserfahrung selbst das Naheverhältnis gar nicht so wichtig ist. Die Erfahrung selbst haben vermutlich Erwachsene genauso, ihre Erschütterungskraft wird dann aber möglicherweise durch andere Netze (stärker ausgebildete Persönlichkeit, stärkere Beziehungen zu anderen Menschen) leichter aufgefangen.
bov,
2. Juni 2002 um 19:20:45 MESZ
Psychologen unterscheiden auch, ob es Mutter oder Vater (oder gar beide) betrifft. Und ob es um das gleich- oder das gegengeschlechtliche Elternteil geht. Es gibt Familien, in denen geschieht es mit Ansage: mehrere gescheiterte Suizidversuche, das Kind müht sich, "gut" zu sein (= dem suizidgefährdeten Elternteil Grund genug zu sein, am Leben bleiben zu wollen); das führt zu anderer Prägung als bei Kindern, in deren Familie der Suizid aus heiterem Himmel geschieht. Geschwister können viel auffangen. Ob das Thema tabuisiert wird oder nicht, macht einen grossen Unterschied. Das Dilemma bleibt: dass du zwar intellektuell in die einzelnen Verästelungen reinkriechen kannst, um etwas wiederzuerkennen, dass aber die rein intellektuelle Annäherung an die eigene Vergangenheit dir bestenfalls sagen kann, wo der Nagel genau sitzt, welchen Winkel er hat und ob er schon rostet. Aus dem Kopf kriegst du ihn dadurch noch nicht.
katatonik,
2. Juni 2002 um 20:01:40 MESZ
Manchmal reicht das auch. Manche Nägel sitzen ohnehin so fest, dass man sie nicht rauskriegen kann. Aber man kann mit Rostschutzmittel Korrosionsschäden verhindern, wenn man weiß, dass da ein Nagel ist. Weit besser als stets auf neue und notgedrungen vergeblich zu versuchen, ihn rauszukriegen.
bov,
2. Juni 2002 um 22:06:39 MESZ
Da würde ich widersprechen. Aber das sprengt den Rahmen eines Weblogs.
katatonik,
2. Juni 2002 um 22:17:59 MESZ
Mit der Nagelmetapher klingt das vielleicht weniger plausibel. Der Gedanke ist aber der, dass es gewisse seelische Beschädigungen gibt, mit denen man nur zurechtkommen kann, indem man sie zur Kenntnis nimmt und mit ihnen lebt, so gut es geht; indem man die Beschränkungen, die man dadurch hat, erkennt und anerkennt. Gefährliche Grenzlinie zwischen unnötiger Resignation und Selbstbeschränkung einerseits und notwendigem Seelenrealismus andererseits, natürlich. Das nur so zur Verdeutlichung, aber ich will da jetzt auch nicht den Rahmen sprengen und hör gern auf damit.
martingrosz,
7. Mai 2003 um 01:52:53 MESZ
MG Kann mir jemand Auskunft geben über das Profil eines Jungen, der seine Mutter im Alter von 10 Jahren durch Selbstmord verloren hat? Was für Auswirkungen hat das auf seine Jugend, seine Beziehung zu seinem Vater, seinem wesentlich älteren Bruder (18)?
blackyfreud,
13. Juni 2005 um 21:58:21 MESZ
das bin ich ich bin das resultat einer mutter die suizid begangen hat und kann dem profil von katanonik nur zustimmen. In dem Profil finde ich mich in jeder hinsicht wieder! @martingrosz du fragst was für auswirkungen der verlust der mutter auf einen jungen von 10 jahren hat. nun, ich bin kein junge, aber habe meine mutter mit 8 jahren verloren. Mein Vater wurde zur einzigen und wichtigsten bezugsperson, die aber letztendlich so einengend wurde (weil er nicht loslassen konnte und nicht über den tod meiner mutter hinweg kam), das das für mich wie ein zweites trauma war ... eine kindheit nach dem alter von 8 jahren, gab es nicht mehr. wenn ich einem vater eine rat geben müsste, dann wäre das "rede mit deinem kind, über deine trauer und über den verlust der mutter, so oft und so viel es nötig ist "für das kind"" und hole dir hilfe (professionelle) wenn du merkst, du schaffst es nicht mehr alleine. lass dein kind nicht alleine damit. Was die beziehung zum wesentlich ältern bruder angeht ... (in meinem fall war es die wesentlich ältere schwester), so wurde sie zu meinem retter, der mit nicht retten konnte, später zu einer ersatzmutter, die keine ist! schwierige situtation, vor allem wenn keine professionelle hilfe genommen wird.
Studentin,
7. April 2014 um 15:06:44 MESZ
Umfrage Hallo, ich hätte mal eine ganz andere Frage. Ich studiere an der pädagogischen Hochschule Reutlingen und schreibe meine Abschlussarbeit zu der Fragestellung: Was wünschen sich Kinder nach dem Suizid eines Elternteils hinsichtlich der Trauerbegleitung? Hierfür suche ich InterviewpartnerInnen, deren Elternteil sich suizidiert hat, als sie noch nicht Erwachsen waren. In der Literatur wird leider meist nur über die Personen gesprochen und nicht gefragt, was deren Wünsche sind. Dies möchte ich mit meiner Befragung ändern, um gerade auch Kinder helfen zu können, die sich in solch einer Situation befinden. Ich würde mich sehr freuen, wenn jemand Interesse an einem Interview hätte. Bitte melden Sie sich unter folgender Adresse oder hier im Forum bei mir: maier_ramona@gmx.de. Vielen Dank Ramona |
Geklaut beim Salbader
Hinweis in eigener Sache Das Weblog Freitod definiert schon mit seinem Namen das Thema, das es enthält: Aspekte des Suizids sollen in gesellschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht erörtert werden. Freitod ist ein kollaboratives Weblog, das allen registrierten Antville-Usern ermöglicht, sich zu beteiligen, indem sie entweder Einträge verfassen oder Kommentare zu den Einträgen schreiben können. Abgrenzend sei gesagt, dass nicht um Sinn und Daseinsberechtigung des Freitodes diskutiert werden soll und dass es sich auch nicht um ein Selbshilfeforum für Gefährdete oder betroffene Angehörigen handelt. Suchen Sie Erste Hilfe, ob selbst oder für eine Freundin oder einen Freund dann probieren Sie diesen Link oder diesen Link (Österreich) aus oder diesen pragmatischen Hinweis: "Nur nicht heute."
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